Mark Fisher/The Weird and the Eerie

Mark Fisher, auch bekannt als „k-pop“, war mir bis jetzt kein Begriff.  Ich war deshalb dankbar für eine weitere Einordnung durch Dietrich Diederichsens Rezension zu Fishers “Das Seltsame und das Gespenstische”. Dessen Zusammenfassung von Fishers Hauptthesen machte mir den Blogger und Kulturkritker äußerst sympathisch, vor allem in seiner Kritik einer Klassengesellschaft, die das „ursprüngliche Gefühl der Wertlosigkeit” bei denen hinterlässt, die von ihr zu Verlierern gemacht werden. Auch beim Lesen der Einleitung zu “Das Seltsame und das Gespenstische” gefiel mir vor allem dieser politische Aspekt, ausgedrückt z.B. im folgenden Zitat:

“Das Kapital ist auf allen Ebenen ein gespenstisches Ding: aus dem Nichts hervor-gezaubert, übt das Kapital dennoch mehr Einfluss aus als jedes andere vermeintlich substantielle Wesen.”

(Ich nehme mir deshalb vor, mich in naher Zukunft mit Fisher’s Buch „Capital Realism: Is there no alternative?“ auseinanderzusetzen. Erinnert mich zumindest oberflächlich stark an Slavoj Zizek.)

Ich stieß jedoch, ähnlich wie Diederichsen, auch auf ein paar Dinge, mit denen ich zumindest auf den ersten Blick nicht ganz übereinstimmen konnte.

Als Rahmen seiner Analyse entwickelt Fisher die zwei voneinander abgesetzten Kategorien  “Eerie” und “Weird” (eher schlecht als recht mit “Gespenstisch” und “Seltsam” übersetzt). Gespenstisch sei das, was nicht dazugehört. Seltsam das, was nicht zueinander gehört. Dass der hiervon abgegrenzte Begriff des “Unheimlichen” vielleicht etwas zu allgegenwärtig und zu sehr von Freud dominiert ist, das kann man vielleicht so stehen lassen. Auch die Abgrenzung zwischen dem “Unheimlichen” als dem immer mit dem Vertrauten, dem Inneren Befassten, und Fishers beiden Kategorien als Beschäftigung mit dem “Außen,” dem eigenartig Unzugänglichen, scheint schlüssig. Weniger überzeugend fand ich aber z.B. die Aussage, dass das Gespenstische auch positiv mit “Gelassenheit” assoziiert werden kann, wie in “gespenstische Ruhe”. Vielleicht hapert es hier wieder an der Übersetzung, aber dieser Ausdruck hat für mich eine unterschwellig bedrohliche Aussage. Fishers Versuch, das Seltsame und Gespenstische von rein negativen affektiven Reaktionen zu distanzieren, gelang in meinem Fall deshalb nicht ganz (zumindest nicht in der Einleitung).

Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass die beiden Begriffe in Bezug auf 360 Grad Video von Nutzen sein können. Vor allem das Gespenstische scheint mir durch die Perspektive gegeben, die durch das neue Format schnell von dem gewohnten, anthropomorphen Blick abgelöst werden kann. Eine Kamera, die auf dem Waldboden liegt, gibt uns noch eher die Perspektive eines Kleintiers oder Steins — etwas radikal Anderem, Äußerem. Genau genommen ist da gar keine Perspektive im engeren Sinn; uns werden lediglich Blickoptionen gegeben, die erst realisiert werden müssen. Das Sehen ist noch nicht vollzogen — nicht wie bei einer kartierter Aufnahme. Das hinterlässt unbeantwortete Fragen nach der Intentionalität, der Gerichtet-heit des Abbildenden und des Abgebildeten. Bei meinen eigenen Videoversuchen, in denen ich aus einem Versteck heraus und durch andere Objekte hindurch mit dem Blickfeld der Kamera interagiert habe, wurde auch die Frage nach der Wirkungsmacht hinter Phänomenen aufgeworfen, die Fisher als zentral für das Gespenstische sieht.

 

Pinecone Wars

Scalpy Breath

Decaying Armour

Kid’s Toy Guarding the Bastion

 

Die Idee zu dieser Videoreihe – oder, wie man vielleicht sagen könnte, diesem „body of work“ – kam, als ich mit H durch den Wald lief und wir über die Spiele unserer Kindheit sprachen, ausgelebt in den Bauminseln Niederbayerns, bzw. in denen Südenglands. Ich hatte zuvor tatsächlich schon überlegt, H selbst zum Thema meiner Arbeit zu machen – manchmal kommt er mir immer noch wie ein gutmütiges englisches Hausgespenst vor, das irgendwie hier im Schwarzwald gelandet ist. (Interessanterweise hat H’s verstorbener Großvater einen Essay über Spukhäuser geschrieben, fein säuberlich in ein ein jetzt vergilbtes kleines Heft, und H hat nach dessen Tod den Essay ebenso fein säuberlich in ein Word Document übertragen. Geister und ihre Medien!)

Doch dank Einfluss der objektorientierter Ontologie und Plädoyers für Null-Personen-Perspektive war ich entschlossen, dem Philosophischen mit dem Filmischen gerecht zu werden, und so den Anthropozentrismus (zumindest in seiner plakativster Form) aus meiner Arbeit zu drängen. Mit „plakativster Form“ meine ich hier ganz einfach die klassische Fokussierung auf und Darstellung eines identifizierbaren menschlichen Subjekts, d.h. auch vor allem die Darstellung eines menschlichen Gesichts, das ja „for most of us the locus of another person’s being [ist], perhaps reflecting our own feelings of how we are constructed as a person in other people’s eyes“ (MacDougall, The Corporeal Image, S. 21). Wie man jedoch ohne Zweifel erkennen kann, habe ich das Humane dann doch nicht ganz so „erschüttert“, wie es ein Leviathan vielleicht tut. Vor allem ein Teil dieses Korpus, Scalpy Breath, beschäftigt sich mit dem Menschen und seiner körperlichen und emotionalen Erfahrung. Die anderen beiden Videos geben den unbelebten (wenn auch teils menschengefertigten) Dingen, in ihrem visuellen und akustischen Auftreten, den Vortritt; der menschliche Körper ist durch die provozierte Reaktion des Zuschauers jedoch auch in diese hineingeschrieben.

Doch der Mensch schleicht sich noch weiter ein. Die Idee für Handlung sowie Location stammt, wie oben angedeutet, aus dem Bereich der Erinnerung. Erinnerung, so könnte man sagen, ist ebenfalls menschlich. Denn irgendwie macht sie uns zum Menschen: Erinnerung als kollektive Praxis ist fester und zentraler Teil menschlicher Kulturen. Sie lebt in den Mythen der Vorzeiten, Geschichtsbüchern, Denkmälern, Familienalben. Sie macht uns zu dem, was wir sind. – Dagegen könnte man natürlich halten, dass nur der Mensch Vergangenes und Erinnertes zu Identitäts-Futter verarbeitet. Auch andere Wesen haben Erinnerungen. Vielleicht hat sie sogar jedes Ding dieser Welt: selbst Matratzen punkten mit „Memory-Foam“.

Es sind jedoch zwei bestimmte, menschliche Erinnerungen, die sich hinter diesen Videos verbergen, und – so war die Intention – geisterhaft miteinander verbinden. Auf unserem Spaziergang erzählte mir H von den pinecone wars, also den Tannenzapfen-Kriegen, die er als Kind mit seinen Freunden im Wald auszufechten pflegte. Sofort hatte ich den Wunsch, diese fremde Kindheitserinnerung auf ein Medium zu bannen. Ich hatte die Idee, den Zuschauer durch das 360 Grad Video selbst zum Teilnehmer dieses Kinderspiels zu machen. Dass der Aspekt der kindlichen Freude dabei durch eine unheimliche Verzerrung verloren gehen würde, war mir von Anfang an klar und von mir so erwünscht. Dazu hat vielleicht auch beigetragen, dass ich selbst nur sehr wenige Erinnerungen an Momente habe, in denen mir Schneeballschlachten oder ähnliches wirklich Freude bereiteten – die Angst, die sich als eines von Latours Metamorphosen-Wesen immer nur zu gern meiner bemächtigte, verdrängte meist die Magie des Abenteuers. Diese ernste Herangehensweise brachte die zweite Erinnerung, und mit ihr die Location, mit ein. Die Videos wurden alle in der Nähe eines (leider nicht sichtbaren) Kriegdenkmals, den Zähringer Gefallenen der Weltkriege gewidmet, aufgenommen. Das riesige weiße Kreuz blickt zwischen den Bäumen auf einen relativ steilen Bruch hinab, unterhalb dessen die Aufnahmen entstanden sind. Die zweite Erinnerung ist also ein in Beton gefasstes, und doch unfassbares Andenken an das „reale“ Gegenstück des harmlosen Kinderspiels. Dieses Themenkomplex von Kindheit, Krieg und Verfolgung (sowohl durch die Erinnerung als auch durch den Feind) vereint Scalpy Breath, Decaying Armour und Kid’s Toy Guarding the Bastion zu Pinecone Wars: eine doppelte Verzerrung, eine mahnende Erinnerung an eine sorglose Imitation.

Ich bin hier also nur bedingt in die Fußstapfen der Sensory Ethnography gestapft – das Experiment, mit 360 Grad eine Art fiktive Narrative zu kreieren, war mir wichtig, auch wenn diese Narrative nicht im Vordergrund der Erfahrung steht. Ich frage mich selbst: habe ich eher vom Medium oder „Mythos“ her gedacht? Diesen fundamentalen Vergleich zieht Johannes Bennke in seinem Artikel über das Sensory Ethnography Lab ja zwischen Robert Gardners Forest of Bliss und Paravels und Castaing-Taylors Leviathan (S. 61), die beide Prozesse des Sterbens thematisieren. Das Medium selbst problematisiert habe ich, zumindest was meine Absichten angeht, anderswo mehr – z.B. in Spinning Dog. Andererseits sind die Ergebnisse, die Bilder, natürlich eigenständig; vor allem durch die Gegebenheiten der kleinen 360-Grad-Kamera (ohne Sucher, ohne Sofortkontrolle) und diesem absolut minimalem Level an Postproduktion und Verzicht auf Montage haben sie das letzte Wort. Auch der Zuschauer selbst nimmt Einfluss, wenn er seinen Blickwinkel beim Ansehen der Videos auswählt: noch weniger als bei anderen Filmerlebnissen ist er rein passiver Rezeptor.

Der Effekt, der in Decaying Armour und Kid’s Toy entstanden ist, ist vielleicht vor allem dem Originalton zu verdanken. Neben den geworfenen Tannenzapfen trägt das objet trouvé der Konstellation, ein alter Blecheimer, zu diesem entscheidend bei. Die Wurfobjekte werden zumeist gehört, bevor sie gesehen werden, und kommen aus verschiedenen Richtungen – die Attacke ist nicht überschaubar. Die Bedrohung, also das Gefühl des Ausgesetztseins und der Verletzlichkeit, wird körperlich spürbar. Von diesem Aspekt einmal abgesehen, gibt der Ton auch den Dingen, die sozusagen die Hauptrollen besetzen – also den Zapfen, dem Eimer, dem Spielzeug und dem Gras – eine besondere Präsenz. Diese an sich als „still“ betrachteten Objekte bekommen durch ihr Aufeinanderkrachen eine Stimme, wenn man so möchte. Sie geben einander, indem sie aufeinandertreffen, einen Klang, der sie charakterisiert: der tiefe Trommelschlag des Eimers, das dumpfe Knacken des Grases. In Scalpy Breath hingegen ist es der hörbare Atem, der eine zentrale Rolle spielt. Eine mittlerweile beliebte filmische Technik (man denke besonders an das Horrorgenre), wird durch diesen lauten „Körperton“ das körperliche Erlebnis des Filmsubjekts mit dem des Zuschauers gleichgeschaltet.

 

Cover/ 360 Grad als Ende des Versteckspiels

Eigentlich wollte ich mit einem kleinen Versuch demonstrieren, dass die Architektur einer Kamera, die das sphärische Bild durch zwei Linsen generiert, durch die Abdeckung der einen im Bild selbst sichtbar gemacht werden kann. Untersuchen wollte ich auch, inwiefern man diese Abdeckung, dieses Verstecken als Betrachter erfährt. Ergeben hat sich dabei ein visuell eher unspektakuläres Halb-bild, das in mir allerdings auch ein etwas schauerndes Gefühl hervorruft – etwa so, als wäre das Dunkle hinter einem, wenn man auf das zu Sehende blickt. Als würde sich hinter unserem Rücken etwas Undefinierbares verstecken.

Aber ich möchte auch einen Clip miteinbeziehen, der eigentlich ein „Outtake“ ist. Bei dem Versuch, einen blauen Luftballon über die Kamera zuziehen, ist die Kamera angesprungen und hat unser Kichern eingefangen. Ich finde, dieser Einbezug, dieses Sich-Nicht-Verstecken-Können des Filmenden ist auf eine Art und Weise typisch 360 Grad und filmisch radikal. Kameramann/frau* kann sich dem Blick nicht mehr bequem entziehen, und damit ihren eigenen Blick nicht mehr für den Betrachter (re)konstruieren. Produkt und Produzierende werden eins.

Der Ton ist bei beiden Videos natürlich nicht zu vernachlässigen. Der Klang des Bachs durchzieht die komplette Sphäre von The Other Half, auch wenn sein Bild es nicht schafft. In Balloon Giggles ist es vor allem auch der Klang unserer Stimmen, der unsere Präsenz ausmacht.

The Other Half

Balloon Giggles

 

Der vermisste Hund im Bach / Dizzy loss

Die Welt dreht sich. Ein Hund wird vermisst. Das Plakat zersetzt sich im Wasser.

 

Neue Bildsprachen entwickeln sich nicht allein aus bloßen künstlerischen und/oder forschungsethischen Überlegungen. Ein ausschlaggebender Faktor ist meist auch die technologische Weiterentwicklung des Mediums: so hat erst die Erfindung tragbarer Ton- und Bildaufnahmegeräte die Beweglichkeit und Nähe gestattet, ohne die das Direct Cinema undenkbar gewesen wäre. Neuere Ansätze der Sensory Ethnography, sichtbar (und hörbar!) gemacht in Lucien Castaing-Taylors and Véréna Paravels Leviathan, bedienen sich ebenso der technologischen Möglichkeiten, sowie der Beschränkungen, relativ neuer bzw. ungewöhnlicher Kameratechniken:  Go-Pro-Kameras, genutzt sowohl als Film- als auch Tongeräte, haben dieses filmische Monstrum erst möglich gemacht. Ihre Robustheit, Flexibilität und Low-Fi-Ästhetik sind Teil der Sprache, der Epistemologie von Leviathan.

Doch welche neue Sprache kann sich durch die 360-Grad-Kamera entwickeln?

Ihr offensichtlicher ‚Vorteil‘ gegenüber anderen Kameras ist ja schon im Namen enthalten: 360 Grad. Sie ermöglicht die Erstellung eines sphärischen Bildes, durch das sich der Betrachter direkter als je zuvor an die ‚Stelle‘ der Kamera begeben kann. Doch möglicherweise birgt dieses Wegfallen des Rahmens, der rahmenden Entscheidungskraft des Filmenden für den künstlerisch-forscherischen Gestalter mehr Gefahren als Vorteile. Wie David MacDougall in The Corporeal Image anmerkt, kann ein Bild blind wirken, wenn die rahmende Intention dahinter fehlt. Ein Beispiel dafür wären die Aufnahmen einer Überwachungskamera. Diese Gefahr der Blindheit, so scheint es mir, lauert in der Allsicht der 360-Grad-Kamera. Dies wird in dem von uns genutzten Modell noch verstärkt dadurch, dass das Bild nicht direkt kontrolliert werden kann. Ist 360 Grad, egal ob Standbild oder Video, vielleicht doch nur ertragreich für Werbevideos und Google Maps?

Vielleicht muss das neue Medium auch erst an seine Grenzen gebracht werden, damit sich sein Potential erkennen lässt. Eine dieser Grenzen ist, wie sich früh im Verlauf des Seminars herausgestellt hat, das Aufnehmen unter Bewegung der Kamera. Das bestmögliche sphärische Bild wird erstellt, wenn sich die Kamera in Ruhelage befindet – vor allem ruckhafte Bewegungen stören den Verarbeitungsprozess der Kamera enorm. Eine Bewegung der Kamera wird natürlich auch von vornherein erschwert, wenn Kameramann/frau* unsichtbar bleiben möchte. Eine statische Position führt dann wiederum zu einem möglicherweise ‚blindem‘ Bild, das nur durch die Aktivität des Zuschauers/Nutzers und Bewegungen im Bild belebt wird.

In diesem Experiment wollte ich deshalb die mögliche ‚Fehlerhaftigkeit‘ des Bildes einer bewegten Kamera in Kauf nehmen, bzw. als Spur des spezifischen technischen Apparates untersuchen. Wie es so oft ist mit Experimenten, lieferte der Versuch einige andere Ergebnisse, die den ursprünglichen Ansatz in den Schatten stellten. Das Schwingen der Kamera an einer Schnur, so wurde es deutlich, hat gegenüber statischen Aufnahmen den eindeutigen „Vorteil“, dass das Video durch die Bewegung der Kamera zumindest den Anschein von Intention an den Tag legt; sogar (oder vor allem) wenn keine 360-Grad Interaktion seitens des Nutzers stattfindet. Das Video ist auf den ersten Blick als solches zu erkennen. Und es scheint uns zu sagen, wohin wir sehen sollen. Es bewegt sich, also müssen wir uns nicht zwingend durch das Bild bewegen. Dieses ‚Schau!‘ wirkt natürlich umso absurder, desto öfter sich das Bild um seine eigen Achse dreht. Die Unkontrolliertheit der Bewegung wird sichtbar, nicht zuletzt durch das Langsamerwerden der Schwingungen. Also bewegen wir uns selbst ins interaktive Bild. Die Möglichkeiten in dieser schwindelerregenden Sphäre sind vielfältig: man kann versuchen der Bewegung „gegenzusteuern“, oder einen Fokuspunkt (z.B. das Plakat im Wasser) auswählen und versuchen diesen zu halten, oder vielleicht sogar Gefallen daran finden, dass die eigene Macht der Bildauswahl, und damit diese neue, seltsame Verantwortung seitens des Betrachters, durch das ständige Gegen-Bewegen des Bildes geschmälert wird.

Interessanter als die Bilder ist vielleicht jedoch der Ton (Originalton). Hier fand die Verzerrung statt, auf die ich gewartet hatte. Die Verbindung von Ton- und Bildaufnahme in einem einzigen Gerät bekommt durch diesen durchaus gespenstische Sound eine neue Dringlich- und Fassbarkeit: das raunende Lauter-Leiser erfolgt eindeutig parallel zum Schwingen des Bildes. Nicht nur wegen der Low-Fi Qualität des Tons musste ich hier auch an Leviathan denken: die dort verwendete Methode, bei der die Go-Pros an Boompoles befestigt wurden, verbindet, verschränkt und vertauscht die Techniken der Bild- und Tonaufnahme auf eine ähnliche Weise.

 

Romeo Grünfelder: Ted Serios. Serien

 

[Ted Serios]

Seminar

Die kleine Diskussionsrunde mit Grünfelder warf zunächst anregende Fragen zu unseren eigenen Projekten auf. Seine Erwartungshaltung als aktiver Filmemacher war definierter als bis jetzt im Kursgespräch üblich — vor allem in Bezug auf das Projekt als abgerundete, abgeschlossene Arbeit, die sich dann auch Aufgaben wie die der Narrativität stellt. Tja, wir spielen und denken vielleicht ein bisschen mehr, als dass wir Geschichten erzählen, aber das ist schon okay. Grünfelders eigene Arbeiten schienen recht ausgeklügelt und geistreich (haha); die These des ersten Films schien mir aber davon übertroffen, dass er doch sehr den französischen Flair des Nouvelle-Vague romantisierte, samt Zigarettenrauch und adretten Frauenkörpern.

Vortrag

Die Motivation hinter und Argumentation in Grünfelders Arbeit über Ted Serios schien mir teilweise obskur. Die Fragen, die einige der Anwesenden nach dem Vortrag stellten, waren förderlich — v.a. der Beitrag bezüglich ontologischer Bedenken, die bei einer ästhetisierenden Herangehensweise leicht untergehen. Meine Frage auch beim Lesen des Texts: wieso die tiefgängige Beschäftigung mit Bewegungsphilosophie à Deleuze etc., wenn eine sehr plausible Erklärung der identischen Beinhaltung der Fotografierten die ist, dass Ted mehrere Aufnahmen derselben Trick-Linse im “Gizmo” gemacht hat? Vielleicht stecke ich selbst zu sehr in der kritisierten „IST DAS DENN JETZT WAHRHEIT ODER FÄLSCHUNG“-Haltung fest. Aber spontan hat sich mir der Sinn einer künstlerisch-philosophischen Erforschung eines potentiellen Taschenspielertricks eher nicht erschlossen. 

Die Gestalt und diskursive Position des Psychiaters Jule Eisenbud ist interessant. Grünfelder übernimmt scheinbar, da er auf Eisenbuds Buch aufbaut, die Annahme, dass dieser derjenige ist, der durch ausreichende Eliminierung von Betrugsmöglichkeiten irgendetwas beweisen muss und kann. Trotz Eisenbuds schlussendlichen Verstosses aus den Reihen der “echten” Wissenschaftler — dass sich die Wissenschaft gerade durch diese Art von Demarkationsprozessen definiert und als gesellschaftliche Macht etabliert, hat er richtig erkannt — nimmt Eisenbud eine Zwischenposition ein, zwischen der Welt der empirischen Versuchsanordnungen und der der übersinnlichen Ted’s. Diese Position scheint mir aufgrund Eisenbuds enger Verbindung mit Ted von vornherein instabil und unglaubwürdig. Ted und er treten als ein Team auf. Ein echter Härtetest kann nur von einem wahren Skeptiker durchgeführt werden.

#Confession — auf mich hat vor allem die maskuline Ästhetik der Zigarren-paffenden Anzugmänner im Dokumentarfilm über Serios einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Peter Geimer: Sichtbar/Unsichtbar.

Über Peter Geimers Kapitel Sichtbar/Unsichtbar. Kritik einer Zweiteilung: Fotografie des Unsichtbaren in Romeo Grünfelders Ted Serios. Serien

Und wieder eine Erinnerung daran, wie eng das Technische und das Geistige miteinander verknüpft sind. Und auch an den esoterischen, geisterhaften Touch, der technischen “Fortschritten” anhaften kann. Diese Erinnerung ist vor allem in diesem Kurs, der der Exploration eines relativ neuen fotografischen Mittels im Zusammenhang neuer philosophischer Perspektiven gewidmet ist, wichtig.

Es geht vor allem um Zeitstillstand und Sichtbarmachung. Sehen — das ist schon seit langem die gängige Metapher für Erkenntnisgewinn in der westlichen Geistesgeschichte. Sehen, das ist wissen – vor allem, wie Kritiker der Moderne zeigen, in einer Weltsicht der Dualismen, von denen Sichtbar-Unsichtbar von ontologisch zentral ist. Denn nur was sichtbar ist, ist zu erkennen. Zeig mir doch deinen Gott, deine Geister. Etwas für den Menschen sichtbar machen, heißt in dieser Denkweise auch, seine epistemischen Grenzen zu überwinden. Und wie David MacDougall sagt:

„We assume that the things we see have the properties of being, but our grasp of this depends upon extending our own feeling of being into our seeing. In the process, something quintessential of what we are becomes generalized in the world. Seeing not only makes us alive to the appearance of things but to being itself.“ (Introduction to „The Corporeal Image“)

[Etiénne Jules-Marey]

Dieser Zusammenhang zwischen sein, wissen und sehen wurde natürlich auch in den Bereich der „professionellen“ Wissensproduktion hineingetragen, bzw. von ihr untermauert. Die Wissenschaft kann seit Ende des 19. Jahrhunderts, dank immer weiter verbesserter fotografischer Verfahren, in einem Bild die Zeit einfrieren. Sie hat damit Wissen gewonnen, ist dem normalen Menschen und seinem Paar Augen also voraus, und seiner Fantasie sowieso. Projektile, Wassertropfen, galoppierende Pferde; Momente werden gefangen und Fragen beantwortet. Doch auch Distanzen, die der normalen Optik Grenzen auferlegen, wurden im Namen der Wissenschaft überwunden: weit in die Sterne. In den astronomischen Fotografien scheint die Magie des Weltalls greifbar.

Geimer hat zu alldem Fragen. Er will wissen: von was grenzt sich diese Art von Fotografie wirklich ab — ist die Vorstellung des Gegenstücks, der “Fotografie des Sichtbaren”, denn nicht obsolet oder von vornherein fragwürdig? Ob die Antwort darauf relevant ist, weiß ich nicht — dass die Kamera nie ein absoluter Zugang zur Wirklichkeit war, ist klar, und auch, dass sie kein direktes Equivalent unseres menschlichen Auges und Wahrnehmens ist.

Aber die Frage, wo sich denn das Unsichtbare aufgehalten hat, bevor wir es fotografiert haben, ist interessant. Sie zeigt wieder die Muster unseres Denkens, unsere hartnäckige Assoziation von optischer Zugänglichkeit und ontologischer Realität.

 

 

„Modern“ Ghosts

IMG_4347IMG_4351IMG_4364IMG_4374 2

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg

Auf einem dieser Spaziergänge, mit denen man sich sonntags manchmal von seinen Ängsten vor der kommenden Woche zu befreien versucht, fällt mir die Psychiatrie in Herdern zum ersten Mal auf. Mein Blick bleibt zuerst an den hochgewachsenen, weißfingrigen Bäumen der Allee hängen. Mir gefällt die Art und Weise, wie sie in den Himmel greifen und dabei den Eingang des düster-prächtig anmutenden Gebäudes rahmen. Sie verstärken die Distanz, die zwischen dem Straßenzugang der Einfahrt und dem halbverborgenen Haus liegt; wie Wärter stehen sie da, diese verästelten, vervielfältigten Gewächse. Der Weg an ihnen vorbei scheint unendlich lang.

Ich muss an letzten Sommer denken, und an eine andere psychiatrische Klinik, in Highgate, London. Ein paar milde Frühabende verbrachte ich dort – eine seltsam schöne Erinnerung, die nach Aloevera-Zuckerwasser aus dem Cornershop an der Bushalte schmeckt. Ich besuchte damals einer Freundin, mit Taschen voller Kekse und Bücher. Ich machte mir wahnsinnige Sorgen um sie. Und doch – wenn ich an diese Aloeverawasser-Abende zurückdenke, kommt mir in den Sinn, wie wir mit Bademantel tragenden, unsinnige Geschichten erzählenden Männern Pingpong spielten, und wie wir im kleinen, hoch eingezäunten Innenhof auf den Bänken lagen und in den blauen Himmel schauten, und ich meine Freundin zum Lachen brachte, so sehr, dass sie sich mit den bandagierten Armen den Bauch hielt vor Lachen. Die laute Stille des Sommers hatte uns eingehüllt und geborgen. Ein paar ewige Momente lang konnte nichts Schlechtes passieren, nicht dort, in diesen Räumen, zu denen man nur durch lange Gänge gelangte.

Ich frage mich, ob die hohen Baumwärter den Menschen da drinnen auch dieses Gefühl geben, dieses Gefühl, beschützt zu sein in einem verborgenen Inneren. Das Draußen, das kann schließlich ganz weit weg manchmal gut aufgehoben sein. Draußen in London begegnete ich einem der Männer aus der Klinik wieder; er saß alleine auf dem Gehsteig, als ich ihn sah, woraufhin er hastig aufsprang und mir versicherte, er sei nur müde gewesen. Draußen sind die Dinge komplizierter. Doch jetzt, wo ich hier in Herdern im Draußen stehe, fühlt es sich nicht nur gut an, diese Distanz. Wie unglaublich schwer der Weg an diesen Bäumen vorbei ins Innere der Klinik doch auch scheint. Es ist kalt, und der kleine Kanal gluckert eisig über die viel zu bunten Enten.

Drinnen und draußen – eine Abgrenzung, die sich vor allem in diesem Fall auf mehr bezieht als das Innere und Äußere eines Klinikgebäudes. Die realen Räume überschneiden sich mit den imaginierten und mentalen, sind mit ihnen behaftet oder werden von ihnen verdreht. Andere Gegensatzpaare spielen deshalb in die Bedeutung des Inneren und Äußeren mit hinein; diese unterscheiden zwischen „uns“ und den „anderen“, aber auch zwischen den „realen“, externen Dingen, und denen, die in unserer „modernen“ Weltsicht als Produkt der Psyche und deshalb als ontologisch „minderwertig“ angesehen werden. Was sich in unseren Köpfen abspielt, wird von unserer rationalisierten Weltsicht dort sozusagen metaphysisch eingeschlossen: die Dämonen, die viele von uns heimsuchen, entspringen ja nur Amoklaufenden Nerven und Botenstoffen, und sind deshalb keine Wesen, die in unserer schönen, äußeren, „echten“ Welt wandeln könnten. Dieser Aspekt liefert einen Ansatzpunkt, von dem aus man, Latour folgend, das fotografierte Psychiatriegebäude auch mit dem Thema Magie und Geister zusammenführen kann, ohne auf den altbekannten Spuk zurückzufallen, den alte „Irrenhäuser“ ja nur zu oft für Horrorfilme und Geistergeschichten beherbergen müssen.

Latour, ein bekannte Kritiker der Erfolgsnarrative der Moderne und selbsterklärter Anthropologe dieses seltsamen Stämmchens der „Modernen“, widmet ein Kapitel seines 2013 erschienenen An inquiry into modes of existence. An anthropology of the moderns (AIME) den „invisible beings“ bzw. den „beings of metamorphosis“. Damit sind die übernatürlichen, okkulten, verborgenen Phänomene gemeint, deren gesellschaftliche und metaphysische Bedeutung die Ethnologie, sowie der westliche Durchschnittsmensch, üblicherweise „anderswo“ verortet – in anderen Kulturen oder in einem „vormodernen“ Europa. Diesen unsichtbaren Geistern und Gespenstern (oder wie auch immer man die wirkenden Kräfte benennt) wolle man, so Latour, als „moderner Mensch“ keine Realität zusprechen, da sie dem Glauben an ein Inneres und Äußeres des Menschen, bzw. dem gesamten, auf einer dualistischen Ontologie basierenden Konstrukt der modernen Weltsicht, nicht entsprechen:

„[…] this modernist believes that the others believe in beings external to themselves, whereas he ‚knows perfectly well‘ that these are only internal representations projected onto a world that is in itself devoid of meaning […]“ (AIME, S. 187)

Und trotz dieser oberflächlichen Verlagerung des Spuks ins Anderswo und ins Innere, scheint es Latour doch unangebracht, die Geister als ausgerottet zu sehen. Er erinnert uns daran, dass gerade hier in der westlichen Welt nicht nur „okkulte“ Praktiken fortgeführt oder kommerziell angeeignet werden (ganz Latours These entsprechend, dass der große Sprung der Moderne nie stattfand), sondern auch besonders riesige Teile des gesellschaftlichen Lebens und wirtschaftlichen Schaffens mit diesen immateriellen, unsichtbaren Wesen beschäftigt sind, so zum Beispiel auch die Psychotherapie. Emotionale Belastungen und Traumata werden immerhin als Kräfte wahrgenommen, die von außen kommen, bzw. das Innere besessen. Diese „Wesen“ sind aber laut Latour nicht nur Teil unserer Gesellschaft, sondern auch wichtig für unsere Selbstexistenz:

„The continuity of a self is not ensured by its authentic and, as it were, native core, but by its capacity to let itself be carried along, carried away, by forces capable at every moment of shattering it or, on the contrary, of installing itself in it.“ (AIME, S.196)

Das erinnert auch an Mortons Kommentar zum Einfluss von Hyperobjekten wie der Atombombe – die Hyperobjekte sind ja auch, auf ihre Art und Weise, unfassbar und verborgen – auf das Selbst:

[…] a traumatic rupture in the continuity of his being, a wound around which his psyche secreted memories, fantasies, thoughts. The self, in this respect, is nothing more than the history of such wounds and the secretions we exuded to protect ourselves from them.“ (Hyperobjects, S. 51)

Latour schlägt deshalb eine Ontologie vor, in denen Dinge verschiedene Existenzmodi haben und die unsichtbaren Wesen einen Platz finden. Er gibt ihnen den Existenzmodi „Metamorphose“, denn die Erfahrung, die Menschen mit ihnen machen, ist die einer Transformation – das kann eine Überwindung der Krise sein, welches der „weißen Magie“ gleicht, oder aber eine Phänomen der Selbstentfremdung bei Kontrollverlust („schwarze Magie“) (AIME, S. 191ff.). Diese Wesen der Metamorphose sollen durch die neue Ontologie der Existenzmodi eine Art von Wahrheit und Externalität erhalten, bzw. den „metaphysischen Respekt“ (mein Ausdruck), der sonst nur dem „Sichtbaren“ und „Äußeren“ vorbehalten ist.

 

Waldgeschichten, oder: Der natürliche Wald?

Im Seminar, als auch an einem Abend im Club Topinambur (The Merry Pranksters plotten Live-Tatort), sind wir des öfteren auf die Geschichte des Schwarzwalds zu sprechen gekommen. Sooo genau hat zwar beim Tatort-Event vielleicht niemand zugehört, als uns ein Schwarzwald-Experte die historischen Details der Gegend vorgetragen hat – ich habe mir leider gar nichts gemerkt! – doch es ist bestimmt keine schlechte Idee, sich etwas mit der Historie dieses Lebensraums und Baumbestands auseinanderzusetzen. Der Schwarzwald bildet ja immerhin Teil des Themenbereiches, in dem unsere Gedanken momentan umherschwirren. Eine kurze Übersicht, die die Zeitspanne vom Einbruch des Oberrheingrabens im Tertiär bis zur heutigen Zeit des Wandertourismus umspannt, findet man z.B. hier.

Besonders interessant im Kontext des New Materialism ist hier, wie Mensch und Umgebung, aber auch Teile der Umgebung untereinander, miteinander in Beziehung stehen. Dabei kommt auch die Frage danach auf, wie und wieso der Wald als „natürlich“ oder „unnatürlich“ konstruiert wird. Als „Naherholungsgebiet“ ist der Schwarzwald heute namentlich dazu prädestiniert, auf den menschlichen Emotionshaushalt einen positiven Einfluss irgendeiner Art zu haben – damit steht die Landschaft (in dieser Bezeichnung) einer menschlichen Reaktion näher als ihrer eigenen ontologischen Realität; ein Unding der anthropozentrischen Wahrnehmung und Darstellung, das allen voran Morton, aber auch David MacDougall, vor allem gerne an Landschaftsbildern des 18. und 19. Jahrhunderts kritisieren:

„Meaning can easily overpower being. We see this in the effect of the picturesque on portraiture and landscapes in nineteenth-century painting and photography.“ (MacDougall, The Corporeal Image, p. 4)

Das Pittoreske ist längst nicht ausgestorben. Wie es scheint, wenn man sich die meisten Postkarten der Schwarzwaldtouristik ansieht, ist der „Naherholungseffekt“ am größten bzw. verkauft sich am besten, wenn der Mensch und seine (neueren) Bauten geschickt aus dem Rahmen der Bilder fallen. Morton hat uns ja schon auf eine der Gefahren des „Rahmens“ hingewiesen: die ästhetische und ethische Distanz, die aus dieser Art der Wahrnehmung hervorgeht. Aus genau dieser Distanz soll der Schwarzwald scheinbar genossen werden: es geht ja, ganz klassisch (bzw. modern), um einen selbst, und nicht wirklich um die verrottenden Blätter, huschenden Vögel und sprießenden Fungi. Paradoxerweise ist der Mensch also gleichzeitig das Zentrum und der Randpunkt der kommerziellen Schwarzwald-Vorstellung. Der Mensch soll herkommen um zu sehen; Natur soll da sein, um gesehen zu werden. Denn Sex sells, aber eben auch Nature. Damit die heutzutage imaginiert werden kann, müssen Bildausschnitte oft mit Bedacht gewählt werden – die Präsenz des Menschen ist im Schwarzwald nur geringfügig weniger wahrnehmbar als anderswo.

Diese Präsenz des Menschen im Schwarzwald übersteigt in gewisser Hinsicht sogar das, was direkt auf Bildern zu sehen ist. Das zeigt ein Detail der Schwarzwaldgeschichte, das im Planet-Wissen-Artikel oben nachzulesen ist, und auch im Seminar besprochen wurde: es handelt sich hierbei um einen genaueren Blick auf die Geschichte der Bäume selbst. Die ersten, die nach Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren das Tundra- in ein Waldgebiet verwandelten, waren Laubbäume wie Eichen, Eschen, Ulmen, Linden und Ahorn. Vor 6000 Jahren kamen die ersten Tannen und Buchen. Mit einer langsam steigenden Besiedlung, deren erste Relikte nur auf das frühe Mittelalter mit Sicherheit datiert werden können, kamen dann die ersten Rodungen. Gegen Mitte des Mittelalters nahmen diese Rodungen stark zu, um Flächen für die Landwirtschaft zu schaffen, aber auch um den Holzbedarf des Erzabbaus zu decken. Im Nordschwarzwald führte dies im 19. Jahrhundert zu einer Krise: der ursprüngliche Bestand wurde fast gänzlich abgeholzt. Die gezielte Aufforstung, mit der auf diese enorme landschaftliche Veränderung durch menschliches Wirtschaften reagiert wurde, brachte dann erst die schnellwachsenden Fichten, die heutzutage als Merkmal der Region bekannt sind. – Natur eben!

IT MATTERS: New Materialism, Speculative Realism and Object Oriented Ontology (OOO) – Erste Begegnungen

Mit diesem langen Titel habe ich mir sicherlich einiges vorgenommen. Wie man vielleicht aber schon an meiner vorsichtigen Formulierung – „erste Begegnungen“ – merkt, verspreche ich keine übersichtliche Abhandlung über diese neuen Strömungen, sondern eher eine Schilderung meiner eigenen ersten Schritte hin zum Verständnis. Um mir selbst Klarheit zu verschaffen, will ich diese drei (Über-)begriffe zusammen anpacken und in Beziehung zueinander setzen. Genaue Abgrenzungen strebe ich nicht an, denn im Grunde scheinen sie in engem Zusammenhang zu stehen, oder zumindest ein gemeinsames „Feindbild“ zu haben: den Anthropozentrismus und „correlationism“ der nachkantischen Philosophie.

Dazu muss ich vorab sagen, dass ich genau aus dieser Tradition heraus denkend auf den ersten Seminartext zur Object Oriented Ontology (OOO), ein Interview mit Graham Harman, gestoßen bin. Wie man sich leicht vorstellen kann, fiel meine Reaktion dementsprechend abwertend aus – wie kann man nur behaupten, dass man über unser menschliches und per Definition in sich geschlossenes, weltschaffendes Bewusstsein hinausdenken kann? Da gingen wirklich die Pferde, bzw. meine verinnerlichte transzendentale Philosophie, sowohl als eine vage Erinnerung an Nagel’s „What’s it like to be a bat“, mit mir durch. Dass meine bisherige philosophische Bildung stark von epistemologischen Ansätzen geprägt war, kann man natürlich auch nicht verleugnen: Erkenntnistheorie steht auf dem Pflichtprogramm für Freiburger Liberal Arts and Science Studenten. Darüber hinaus war ich aus dem Kontext der Science and Technology Studies heraus mit der Actor-Network-Theory bekannt, von der sich Graham deutlich abgrenzt: es geht nicht allein um die Relationen und Interaktionen in einer symmetrischen Anthropologie, sondern zuerst um den Objektcharakter aller Dinge – eine „flat ontology“.

(Die genaue Textstelle, die ich besonders irritierend fand, ist auf S.9 des 48h Waste-Land-Hefts zu finden: „We are all inside our different Umwelt, like in a bubble [hier nicke ich noch]. What I worry about in Uexküll’s account is that he does not account for our ability to get out of that bubble which we can sometimes [und hier definitiv nicht mehr].“)

Nun, nach etwas engerer Beschäftigung mit der Thematik, und v.a. mit Timothy Morton’s Texten, konnte ich mich doch von einigen meiner anfänglichen Vorbehalten lösen, wenn auch nicht von allen. Zum Beispiel finde ich das gelegentliche, unorthodoxe Umherwerfen des scheinbar schlimmsten Schimpfworts – Idealism! Idealism! – noch immer etwas übertrieben. Problematisch scheint mir auch, wie sehr verwendete Begriffe (wie z.B. „Welt“) unter ihrer Schwammigkeit leiden – generell scheint Sprache in diesen Denkströmungen ein Schwachpunkt zu sein, vielleicht auch ironischerweise (und auch obwohl Morton sein bestes tut, seine Metaphern und persönliche Rhetorik gegen die Postmodernisten, bzw. die Idee einer Meta-Sprache, zu verteidigen). Aber mittlerweile sehe ich, dass hinter all dem etwas wunderbar Frisches zu stehen scheint; trotz aller Gegensätze nicht unähnlich dem Versprechen einer Philosophie, die zurück zur Sache selbst kehrt – damals von Husserl gegeben.

Aber zurück zu den drei Begriffen. Was ist denn nun New Materialism? Damit beginne ich, denn dieses weit gespannte Feld scheint die anderen beiden philosophischen Strömungen, Spekulative Realism und OOO, zumindest halbwegs zu umfassen. Da wir zu New Materialism an sich keinen Text gelesen haben, möchte hier den ersten Teil einer sehr hilfreichen Einführung von Susan Yi Sencindiver einfügen:

„New materialism is an interdisciplinary, theoretical, and politically committed field of inquiry, emerging roughly at the millennium as part of what may be termed the post-constructionist, ontological, or material turn. Spearheaded by thinkers such as Karen Barad, Rosi Braidotti, Elizabeth Grosz, Jane Bennett, Vicki Kirby, and Manuel DeLanda, new materialism has emerged mainly from the front lines of feminism, philosophy, science studies, and cultural theory, yet it cuts across and is cross-fertilized by both the human and natural sciences. The revival of materialist ontologies has been animated by a productive friction with the linguistic turn and social constructionist frameworks in the critical interrogation of their limitations engendered by the prominence given to language, culture, and representation, which has come at the expense of exploring material and somatic realities beyond their ideological articulations and discursive inscriptions. Important as this ideological vigilance has been for unearthing and denaturalizing power relations, and whose abiding urgency new materialism does not forego, the emphasis on discourse has compromised inquiry by circumscribing it to the self-contained sphere of sociocultural mediation, whereby an anthropocentric purview and nature-culture dualism, which constructivists sought to deconstruct, is inadvertently reinscribed. Accordingly, the polycentric inquiries consolidating the heterogeneous scholarly body of new materialism pivot on the primacy of matter as an underexplored question, in which a renewed substantial engagement with the dynamics of materialization and its entangled entailment with discursive practices is pursued, whether these pertain to corporeal life or material phenomena, including inorganic objects, technologies, and nonhuman organisms and processes.“

Diese Einführung hat mir sehr geholfen, da ich dank ihr die Bewegung endlich mit mir vertrauten Thematiken verbinden konnte. Der Poststrukturalismus, und besonders Foucault, sind aus den Bereichen der Geisteswissenschaften, die mich besonders beschäftigen – allen voran Gender Studies – ja nicht wegzudenken. Wie Sencindiver anmerkt, hat diese Art von postmodernem Denken einen unvergleichlichen Beitrag dazu geleistet, Machtverhältnisse aufzudecken und zu denaturalisieren. Der Einschub „whose abiding urgency new materialism does not forego“ ist deshalb, hoffe ich, zutreffend, und nicht nur ein pflichtbewusstes Nicken in Richtung der „anderen“. Aber gerade aus einer feministischen Perspektive und mit Hinsicht auf das Körperliche kann ich die oben beschriebenen Einwände nur zu gut verstehen. Ihre „Beschränkung“ auf den Diskurs, bzw. eine zu oberflächliche Rezeption ihrer poststrukturalistischer Arbeit, hat ja z.B. Judith Butler beinahe Ärger mit der Trans-Community eingebracht: ihr Gender Trouble und das darin ausgeführte Konzept der Gender Performativity wurde von manchen als ein Argument dafür gelesen, dass der Wunsch nach operativen Geschlechtsumwandlungen pathologisch und unvertretbar sei. (Hier ein interessantes Interview dazu). Ob es nun an der falschen Interpretation lag oder nicht – dieser Raum für Missverständnisse scheint an sich ein Zeichen dafür zu sein, dass etwas fehlt, und zwar der Bezug zum Somatischen und Materiellen. Von dieser Seite her kann ich den Ansatz des New Materialism gut verstehen.

Aber auch von einer anderen, wohl eher ökologischen als rein feministischen. Es geht ja eben nicht mehr allein um den menschlichen Körper. Anorganische Objekte, nichtmenschliche Organismen und Prozesse, Technologien  – diese neuen Foki rühren von einem verstärkten Interesse daran, einen wahren Copernican Turn im Bezug zum Menschen hinzulegen: wie die New Materialists meiner Meinung nach zu Recht kritisieren, hat der Poststrukturalismus den Konstruktcharakter des Natur-Kultur-Dualismus zwar aufgedeckt, aber durch seinen Fokus auf die menschliche Kultur und Wissensproduktion nur weiter festgeschrieben. Die Kritik der New Materialists richtet sich gegen die festsitzende Weltsicht, dass der Mensch trotz allem das unumstößliche Zentrum bildet.

Interessant ist hier natürlich, wie der New Materialism es schafft, sich von den Naturwissenschaften „cross-fertilizen“ zu lassen. Einer, der das eindeutig und meiner Meinung nach recht eindrucksvoll versucht, ist Timothy Morton. Morton ist ein Object Oriented Ontologist, was ihn damit auch zum Speculative Realist macht – OOO wird laut Wikipedia oft als eine untergeordnete Strömung des Speculative Realism angesehen. (Ich berufe mich hier schamlos auf Wikipedia, denn wer nun in diesen manchmal ja recht kleinlich ausfallenden Label-Debatten das letzte Wort hat… ich weiß es nicht).

Für das Seminar haben wir zwei Texte zu Mortons Konzept der „Hyperobjects“ gelesen, bzw. der „Zero-Landscape“ und seiner „Philosophy and Ecology after the End of the World“. Das Ende der Welt liegt hinter uns, nicht vor uns – diese bombastisch klingende These bildet den strategischen Knackpunkt Mortons theoretischer Position. Denn das Konzept von „Welt“, das wir aus der Romantik und frühen Moderne in unser jetziges Bewusstsein hineingetragen haben, ist nicht mehr operational für den Erhalt unseres Planeten – auch wenn die Drohung, die Welt sei am untergehen, recht populär bei anderen Umweltschützern ist:

„The idea of then end of the world is very active in environmentalism. Yet I argue that this idea is not effective, since, to all intents and purposes, the being that we are to supposed to feel anxiety about and care for is gone. This does not mean that there is no hope for ecological politics and ethics. Far from it. Indeed, as I shall argue, the strongly held belief that the world is about to end ‚unless we act now‘ is paradoxically one of the most powerful factors that inhibit a full engagement with our ecological coexistence here on Earth. The strategy of this book, then, is to awaken us from the dream that the world is about to end, because action on Earth (the real Earth) depends on it. (Morton, Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World, S. 7)

Diese in ihrer Radikalität leicht paradox anmutende, aber damit vielleicht auch endlich hoffnungsweckende Sichtweise steht eng im Zusammenhang mit dem Begriff des Anthropozäns – das jetzige, menschlich dominierte geologische Zeitalter, dessen Beginn Morton auf die Erfindung der Dampfmaschine in 1784 datiert (es gibt bezüglich des Anfangs tatsächlich Streitigkeiten zwischen Anhängern des Begriffs), und das laut ihm eine ‚Große Beschleunigung‘ mit der Atombombe in 1945 erfuhr. Diese beiden Daten stellen für ihn auch das doppelte „Ende“ der (konzeptuellen) Welt dar.

Das Ende des Weltbegriffs wird durch das bedingt, was Morton „Hyperobjects“ nennt. Er definiert diese als „things that are massively distributed in time and space relative to humans“ – Beispiele sind zum Beispiel die Klimaerwärmung oder das Sonnensystem (S. 1). Er macht deutlich, dass die Hyperobjekte, entgegen der bisherigen „idealistischen“ Konzeption des Objekt-Phänomen-Verhältnisses, real existieren, egal ob wir sie wahrnehmen oder nicht (kennzeichnend für seinen anti-„correlationist“ Speculative Realism). Und doch ist die Liste der Attribute, die er seinen Hyperobjekten verpasst – viscous, nonlocal, interobjective, bzw. im anderen Text viscous, squishy, nonlocal, transdimensional – von der persönlichen, menschlichen Wahrnehmung dieser „hyper“ Dinge gefärbt. Das „Ich“, so erklärt Morton dies, sei eines der Objekte, die von Hyperobekten „footprints“ abbekommen, „distorted as they always must be by the entity in which they make their mark – that is, me“ (S. 5). Oder, anhand einer Analogie mit Regentropfen, deren „anthropomorphe Übersetzung“ wir auf unserem Kopf spüren (S. 11): „things are themselves, but we can’t point to them directly.“ (p. 12). Aus Husserls Einsicht, dass niemals alle Seiten eines Gegenstands zugleich wahrgenommen werden können, wurde in Object Oriented Ontology also die Sicht aller Dinge (und Hyperobjekten) als „shy, retiring octopuses that squirt out a dissembling ink as they withdraw into the ontological shadows“ (S. 4). Die Hyperobjekte, für die unsere eigene, verzerrte Wahrnehmung nur Hinweise liefert, stehen hinter dem Untergang unseres alten Weltbegriffs – eines davon die „Erde“ selbst. Wir leben in einem „age of ecological emergency – in an age in which hyperobjects start to oppress us with their terrifying strangeness“ (S. 48).

Zu diesen Objekten, als auch zu Mortons philosophischer „cross-fertilisation“ durch die Quantenphysik gibt es einiges zu sagen (vor allem wenn er auf Aspekte wie Performativity und Textuality auf Quantenniveau, also der „Materie“ an sich, zu sprechen kommt!). Doch ich merke gerade, wie dieser Blogpost immer länger und länger wird, und möchte gerne zu guter Letzt die Textstellen hervorheben, in denen Morton das Geisterhafte, Unheimliche dieser neuen Ontologie und der in ihr enthaltenen Hyperobjekte anspricht. Zuerst im Zusammenhang des oben angesprochenen, gezwungenermaßen persönlichen, situierten Blickpunkts:

„My situatedness and rhetoric of situatedness in this case is not a place of defensive self-certainty but precisely its opposite. That is, situatedness is now a very uncanny place to be, like being the protagonist of a Wordsworth poem or a character in Blade Runner.“ (S. 5)

Und dann im Kontext des Hyperobjekts der Atombombe:

„Yet this is a weird physical entity, with all the fateful force of that term. To what are we tuning when we attune to the hyperobject? Is this uncertainty not precisely what we are heeding? Isn’t it the case that the effect delivered to us in rain, the weird cyclone, the oil slick, is something uncanny?“ (S. 50)

Hiernach kommt Morton abermals auf Wordsworth zurück, dessen The Prelude die Zähflüssigkeit der Hyperobjekten veranschauliche – wie der Berg im Gedicht den Protagonisten nicht loslässt, so werden wir von Hyperobjekten heimgesucht.

Diese Intuition von Unheimlichkeit ergibt Sinn, und ist vielleicht auch ein Grund für die Feindseligkeit seitens traditionellerer Denker. Die Welt, erlebt durch die Hyperobjekte, aber eben auch gesehen durch die neue Ontologie, ist nicht mehr unser „Heim“ – sie ist uns unheimlich geworden.

Soweit zu meiner Einarbeitung in den New Materialism/Speculative Realism und einen seiner Denker!