Mit diesem langen Titel habe ich mir sicherlich einiges vorgenommen. Wie man vielleicht aber schon an meiner vorsichtigen Formulierung – „erste Begegnungen“ – merkt, verspreche ich keine übersichtliche Abhandlung über diese neuen Strömungen, sondern eher eine Schilderung meiner eigenen ersten Schritte hin zum Verständnis. Um mir selbst Klarheit zu verschaffen, will ich diese drei (Über-)begriffe zusammen anpacken und in Beziehung zueinander setzen. Genaue Abgrenzungen strebe ich nicht an, denn im Grunde scheinen sie in engem Zusammenhang zu stehen, oder zumindest ein gemeinsames „Feindbild“ zu haben: den Anthropozentrismus und „correlationism“ der nachkantischen Philosophie.
Dazu muss ich vorab sagen, dass ich genau aus dieser Tradition heraus denkend auf den ersten Seminartext zur Object Oriented Ontology (OOO), ein Interview mit Graham Harman, gestoßen bin. Wie man sich leicht vorstellen kann, fiel meine Reaktion dementsprechend abwertend aus – wie kann man nur behaupten, dass man über unser menschliches und per Definition in sich geschlossenes, weltschaffendes Bewusstsein hinausdenken kann? Da gingen wirklich die Pferde, bzw. meine verinnerlichte transzendentale Philosophie, sowohl als eine vage Erinnerung an Nagel’s „What’s it like to be a bat“, mit mir durch. Dass meine bisherige philosophische Bildung stark von epistemologischen Ansätzen geprägt war, kann man natürlich auch nicht verleugnen: Erkenntnistheorie steht auf dem Pflichtprogramm für Freiburger Liberal Arts and Science Studenten. Darüber hinaus war ich aus dem Kontext der Science and Technology Studies heraus mit der Actor-Network-Theory bekannt, von der sich Graham deutlich abgrenzt: es geht nicht allein um die Relationen und Interaktionen in einer symmetrischen Anthropologie, sondern zuerst um den Objektcharakter aller Dinge – eine „flat ontology“.
(Die genaue Textstelle, die ich besonders irritierend fand, ist auf S.9 des 48h Waste-Land-Hefts zu finden: „We are all inside our different Umwelt, like in a bubble [hier nicke ich noch]. What I worry about in Uexküll’s account is that he does not account for our ability to get out of that bubble which we can sometimes [und hier definitiv nicht mehr].“)
Nun, nach etwas engerer Beschäftigung mit der Thematik, und v.a. mit Timothy Morton’s Texten, konnte ich mich doch von einigen meiner anfänglichen Vorbehalten lösen, wenn auch nicht von allen. Zum Beispiel finde ich das gelegentliche, unorthodoxe Umherwerfen des scheinbar schlimmsten Schimpfworts – Idealism! Idealism! – noch immer etwas übertrieben. Problematisch scheint mir auch, wie sehr verwendete Begriffe (wie z.B. „Welt“) unter ihrer Schwammigkeit leiden – generell scheint Sprache in diesen Denkströmungen ein Schwachpunkt zu sein, vielleicht auch ironischerweise (und auch obwohl Morton sein bestes tut, seine Metaphern und persönliche Rhetorik gegen die Postmodernisten, bzw. die Idee einer Meta-Sprache, zu verteidigen). Aber mittlerweile sehe ich, dass hinter all dem etwas wunderbar Frisches zu stehen scheint; trotz aller Gegensätze nicht unähnlich dem Versprechen einer Philosophie, die zurück zur Sache selbst kehrt – damals von Husserl gegeben.
Aber zurück zu den drei Begriffen. Was ist denn nun New Materialism? Damit beginne ich, denn dieses weit gespannte Feld scheint die anderen beiden philosophischen Strömungen, Spekulative Realism und OOO, zumindest halbwegs zu umfassen. Da wir zu New Materialism an sich keinen Text gelesen haben, möchte hier den ersten Teil einer sehr hilfreichen Einführung von Susan Yi Sencindiver einfügen:
„New materialism is an interdisciplinary, theoretical, and politically committed field of inquiry, emerging roughly at the millennium as part of what may be termed the post-constructionist, ontological, or material turn. Spearheaded by thinkers such as Karen Barad, Rosi Braidotti, Elizabeth Grosz, Jane Bennett, Vicki Kirby, and Manuel DeLanda, new materialism has emerged mainly from the front lines of feminism, philosophy, science studies, and cultural theory, yet it cuts across and is cross-fertilized by both the human and natural sciences. The revival of materialist ontologies has been animated by a productive friction with the linguistic turn and social constructionist frameworks in the critical interrogation of their limitations engendered by the prominence given to language, culture, and representation, which has come at the expense of exploring material and somatic realities beyond their ideological articulations and discursive inscriptions. Important as this ideological vigilance has been for unearthing and denaturalizing power relations, and whose abiding urgency new materialism does not forego, the emphasis on discourse has compromised inquiry by circumscribing it to the self-contained sphere of sociocultural mediation, whereby an anthropocentric purview and nature-culture dualism, which constructivists sought to deconstruct, is inadvertently reinscribed. Accordingly, the polycentric inquiries consolidating the heterogeneous scholarly body of new materialism pivot on the primacy of matter as an underexplored question, in which a renewed substantial engagement with the dynamics of materialization and its entangled entailment with discursive practices is pursued, whether these pertain to corporeal life or material phenomena, including inorganic objects, technologies, and nonhuman organisms and processes.“
Diese Einführung hat mir sehr geholfen, da ich dank ihr die Bewegung endlich mit mir vertrauten Thematiken verbinden konnte. Der Poststrukturalismus, und besonders Foucault, sind aus den Bereichen der Geisteswissenschaften, die mich besonders beschäftigen – allen voran Gender Studies – ja nicht wegzudenken. Wie Sencindiver anmerkt, hat diese Art von postmodernem Denken einen unvergleichlichen Beitrag dazu geleistet, Machtverhältnisse aufzudecken und zu denaturalisieren. Der Einschub „whose abiding urgency new materialism does not forego“ ist deshalb, hoffe ich, zutreffend, und nicht nur ein pflichtbewusstes Nicken in Richtung der „anderen“. Aber gerade aus einer feministischen Perspektive und mit Hinsicht auf das Körperliche kann ich die oben beschriebenen Einwände nur zu gut verstehen. Ihre „Beschränkung“ auf den Diskurs, bzw. eine zu oberflächliche Rezeption ihrer poststrukturalistischer Arbeit, hat ja z.B. Judith Butler beinahe Ärger mit der Trans-Community eingebracht: ihr Gender Trouble und das darin ausgeführte Konzept der Gender Performativity wurde von manchen als ein Argument dafür gelesen, dass der Wunsch nach operativen Geschlechtsumwandlungen pathologisch und unvertretbar sei. (Hier ein interessantes Interview dazu). Ob es nun an der falschen Interpretation lag oder nicht – dieser Raum für Missverständnisse scheint an sich ein Zeichen dafür zu sein, dass etwas fehlt, und zwar der Bezug zum Somatischen und Materiellen. Von dieser Seite her kann ich den Ansatz des New Materialism gut verstehen.
Aber auch von einer anderen, wohl eher ökologischen als rein feministischen. Es geht ja eben nicht mehr allein um den menschlichen Körper. Anorganische Objekte, nichtmenschliche Organismen und Prozesse, Technologien – diese neuen Foki rühren von einem verstärkten Interesse daran, einen wahren Copernican Turn im Bezug zum Menschen hinzulegen: wie die New Materialists meiner Meinung nach zu Recht kritisieren, hat der Poststrukturalismus den Konstruktcharakter des Natur-Kultur-Dualismus zwar aufgedeckt, aber durch seinen Fokus auf die menschliche Kultur und Wissensproduktion nur weiter festgeschrieben. Die Kritik der New Materialists richtet sich gegen die festsitzende Weltsicht, dass der Mensch trotz allem das unumstößliche Zentrum bildet.
Interessant ist hier natürlich, wie der New Materialism es schafft, sich von den Naturwissenschaften „cross-fertilizen“ zu lassen. Einer, der das eindeutig und meiner Meinung nach recht eindrucksvoll versucht, ist Timothy Morton. Morton ist ein Object Oriented Ontologist, was ihn damit auch zum Speculative Realist macht – OOO wird laut Wikipedia oft als eine untergeordnete Strömung des Speculative Realism angesehen. (Ich berufe mich hier schamlos auf Wikipedia, denn wer nun in diesen manchmal ja recht kleinlich ausfallenden Label-Debatten das letzte Wort hat… ich weiß es nicht).
Für das Seminar haben wir zwei Texte zu Mortons Konzept der „Hyperobjects“ gelesen, bzw. der „Zero-Landscape“ und seiner „Philosophy and Ecology after the End of the World“. Das Ende der Welt liegt hinter uns, nicht vor uns – diese bombastisch klingende These bildet den strategischen Knackpunkt Mortons theoretischer Position. Denn das Konzept von „Welt“, das wir aus der Romantik und frühen Moderne in unser jetziges Bewusstsein hineingetragen haben, ist nicht mehr operational für den Erhalt unseres Planeten – auch wenn die Drohung, die Welt sei am untergehen, recht populär bei anderen Umweltschützern ist:
„The idea of then end of the world is very active in environmentalism. Yet I argue that this idea is not effective, since, to all intents and purposes, the being that we are to supposed to feel anxiety about and care for is gone. This does not mean that there is no hope for ecological politics and ethics. Far from it. Indeed, as I shall argue, the strongly held belief that the world is about to end ‚unless we act now‘ is paradoxically one of the most powerful factors that inhibit a full engagement with our ecological coexistence here on Earth. The strategy of this book, then, is to awaken us from the dream that the world is about to end, because action on Earth (the real Earth) depends on it. (Morton, Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World, S. 7)
Diese in ihrer Radikalität leicht paradox anmutende, aber damit vielleicht auch endlich hoffnungsweckende Sichtweise steht eng im Zusammenhang mit dem Begriff des Anthropozäns – das jetzige, menschlich dominierte geologische Zeitalter, dessen Beginn Morton auf die Erfindung der Dampfmaschine in 1784 datiert (es gibt bezüglich des Anfangs tatsächlich Streitigkeiten zwischen Anhängern des Begriffs), und das laut ihm eine ‚Große Beschleunigung‘ mit der Atombombe in 1945 erfuhr. Diese beiden Daten stellen für ihn auch das doppelte „Ende“ der (konzeptuellen) Welt dar.
Das Ende des Weltbegriffs wird durch das bedingt, was Morton „Hyperobjects“ nennt. Er definiert diese als „things that are massively distributed in time and space relative to humans“ – Beispiele sind zum Beispiel die Klimaerwärmung oder das Sonnensystem (S. 1). Er macht deutlich, dass die Hyperobjekte, entgegen der bisherigen „idealistischen“ Konzeption des Objekt-Phänomen-Verhältnisses, real existieren, egal ob wir sie wahrnehmen oder nicht (kennzeichnend für seinen anti-„correlationist“ Speculative Realism). Und doch ist die Liste der Attribute, die er seinen Hyperobjekten verpasst – viscous, nonlocal, interobjective, bzw. im anderen Text viscous, squishy, nonlocal, transdimensional – von der persönlichen, menschlichen Wahrnehmung dieser „hyper“ Dinge gefärbt. Das „Ich“, so erklärt Morton dies, sei eines der Objekte, die von Hyperobekten „footprints“ abbekommen, „distorted as they always must be by the entity in which they make their mark – that is, me“ (S. 5). Oder, anhand einer Analogie mit Regentropfen, deren „anthropomorphe Übersetzung“ wir auf unserem Kopf spüren (S. 11): „things are themselves, but we can’t point to them directly.“ (p. 12). Aus Husserls Einsicht, dass niemals alle Seiten eines Gegenstands zugleich wahrgenommen werden können, wurde in Object Oriented Ontology also die Sicht aller Dinge (und Hyperobjekten) als „shy, retiring octopuses that squirt out a dissembling ink as they withdraw into the ontological shadows“ (S. 4). Die Hyperobjekte, für die unsere eigene, verzerrte Wahrnehmung nur Hinweise liefert, stehen hinter dem Untergang unseres alten Weltbegriffs – eines davon die „Erde“ selbst. Wir leben in einem „age of ecological emergency – in an age in which hyperobjects start to oppress us with their terrifying strangeness“ (S. 48).
Zu diesen Objekten, als auch zu Mortons philosophischer „cross-fertilisation“ durch die Quantenphysik gibt es einiges zu sagen (vor allem wenn er auf Aspekte wie Performativity und Textuality auf Quantenniveau, also der „Materie“ an sich, zu sprechen kommt!). Doch ich merke gerade, wie dieser Blogpost immer länger und länger wird, und möchte gerne zu guter Letzt die Textstellen hervorheben, in denen Morton das Geisterhafte, Unheimliche dieser neuen Ontologie und der in ihr enthaltenen Hyperobjekte anspricht. Zuerst im Zusammenhang des oben angesprochenen, gezwungenermaßen persönlichen, situierten Blickpunkts:
„My situatedness and rhetoric of situatedness in this case is not a place of defensive self-certainty but precisely its opposite. That is, situatedness is now a very uncanny place to be, like being the protagonist of a Wordsworth poem or a character in Blade Runner.“ (S. 5)
Und dann im Kontext des Hyperobjekts der Atombombe:
„Yet this is a weird physical entity, with all the fateful force of that term. To what are we tuning when we attune to the hyperobject? Is this uncertainty not precisely what we are heeding? Isn’t it the case that the effect delivered to us in rain, the weird cyclone, the oil slick, is something uncanny?“ (S. 50)
Hiernach kommt Morton abermals auf Wordsworth zurück, dessen The Prelude die Zähflüssigkeit der Hyperobjekten veranschauliche – wie der Berg im Gedicht den Protagonisten nicht loslässt, so werden wir von Hyperobjekten heimgesucht.
Diese Intuition von Unheimlichkeit ergibt Sinn, und ist vielleicht auch ein Grund für die Feindseligkeit seitens traditionellerer Denker. Die Welt, erlebt durch die Hyperobjekte, aber eben auch gesehen durch die neue Ontologie, ist nicht mehr unser „Heim“ – sie ist uns unheimlich geworden.
Soweit zu meiner Einarbeitung in den New Materialism/Speculative Realism und einen seiner Denker!